Warum wir Kunst neu denken sollten

Kunst als Schlüssel für Problemlösungsfähigkeit, Selbstwirksamkeit und eine inklusive Gesellschaft

Kunst ist kein statisches Konzept. Sie verändert sich mit der Gesellschaft und passt sich neuen Herausforderungen an. In jeder Epoche hatte Kunst unterschiedliche Funktionen – von Bildung für Analphabeten und religiöser Kommunikation bis zur Selbstdarstellung und Gesellschaftskritik. Auch das Bild des Künstlers wandelte sich: Wurden früher Künstler als Dienstleister betrachtet, die im Auftrag arbeiteten, dominierten im 20. Jh. abwechselnd das Bild vom brotlosen Künstler, der nur für seine Kunst lebt, und vom Malerfürsten, der durch geschickte Vermarktung Höchstpreise für seine meist abstrakten Arbeiten erzielte. In der Kunstwelt machte sich demzufolge ein Elitismus breit, der sorgsam darauf achtete, dass nur wenige Zutritt zu den erlauchten Kreisen bekamen. Aber angesichts künstlicher Intelligenz, digitaler Plattformen und eines stark polarisierten Kunstmarkts braucht es eine neue Perspektive: Kunst muss im 21. Jh. als Bildungskompetenz verstanden werden – als eine Fähigkeit, die problemlösendes Denken, mentale Gesundheit und sozialen Zusammenhalt fördert.

Rückblick: Die Funktionen der Kunst im Lauf der Geschichte

Antike und Mittelalter: Verständigung und Identitätsbildung
In Zeiten ohne Alphabetisierung diente Kunst vor allem der Kommunikation: Höhlenmalereien, ägyptische Wandbilder oder mittelalterliche Ikonen vermittelten kollektive Geschichten, religiöse Inhalte und kulturelle Identität. Kunst war ein Instrument der Gemeinschaftsbildung – eine visuelle Sprache, die alle verstanden.¹

Renaissance: Bildung und Individualität
Mit der Renaissance wurde Kunst zum Träger des Wissens und Ausdruck individueller Persönlichkeit. Leonardo da Vincis Zeichnungen verbanden Ästhetik mit wissenschaftlicher Neugier. Kunst unterstützte Bildung und verstand sich als Weg zur Erkenntnis.²

Aufklärung und 19. Jahrhundert: Moral, Wissenschaft und Gefühl
In der Aufklärung diente Kunst der intellektuellen und moralischen Bildung. Künstler wie Caspar David Friedrich verbanden Naturerfahrung mit philosophischen Fragen. Gleichzeitig unterstützte Kunst wissenschaftliche Disziplinen wie Botanik, Anatomie und Zoologie.³

20. Jahrhundert: Ausdruck, Kritik und Mythos
Das 20. Jahrhundert erweiterte die Kunst zur Kritik an Gesellschaft und Normen. Der Expressionismus, die Konzeptkunst oder der Dadaismus setzten emotionale wie politische Zeichen. Parallel entstand das Modell des „Künstlerstars“, wie Picasso oder Warhol es verkörperten – eine Vorstellung, die heute in einer globalisierten, digitalisierten Welt kaum noch tragfähig ist.⁴

Warum das Künstlerbild des 20. Jh. nicht mehr funktioniert

1. Digitale Überproduktion
Digitale Plattformen generieren in Sekunden massenhaft Bilder. Die Druckindustrie ist in der Lage, eine unbegrenzte Anzahl von Kunstdrucken einer einzigen Arbeit zu liefern. Das Überangebot senkt so den finanziellen wie symbolischen Wert einzelner Werke.⁵

2. Prekäre Realität
Laut Deutschem Kulturrat verdienen nur 1–2 % der Künstler*innen ihren Lebensunterhalt ausschließlich mit Kunstverkäufen. Der Rest arbeitet ohnehin schon in Pädagogik, Design oder Kulturarbeit.⁶

3. Neue gesellschaftliche Prioritäten
Angesichts drängender gesellschaftlicher Probleme verliert Kunst ihren Wert als Statussymbol. Heute braucht es Lösungen für Umweltschutz, psychische Gesundheit, Bildungskrisen und soziale Fragmentierung – Bereiche, in denen Kunst aktiv unterstützen kann.⁷

Kunst neu denken: Bildungskompetenz für das 21. Jahrhundert

Die Herausforderungen unserer Zeit erfordern mehr als technische Lösungen. Die Fähigkeit, Probleme zu lösen, Empathie und emotionale Resilienz sind Schlüsselkompetenzen, die man mit Kunst gezielt fördern kann.

Kreatives Lernen und Selbstwirksamkeit
Kunst fördert sowohl kritisches Denken als auch Selbstvertrauen. Kinder, die gegenständlich zeichnen, erleben: „Ich kann etwas erschaffen.“ Abstraktes Malen wiederum eröffnet Spielräume, um Gefühle auszudrücken.⁸

Mentale Gesundheit und Achtsamkeit
Kunst aktiviert das Belohnungssystem, senkt den Stresspegel und fördert die Achtsamkeit – das belegen viele Studien. Laut WHO können kreative Aktivitäten zur Resilienz beitragen und Symptome bei Depressionen oder Ängsten lindern.⁹

Gesellschaftlicher Zusammenhalt
Kunst verbindet. Ob im Klassenzimmer, im Stadtteilzentrum oder auf Festivals – gemeinsames Malen oder Gestalten schafft Begegnung und Vertrauen. Partizipative Projekte fördern Inklusion, Vielfalt und Gemeinschaft.¹⁰

Innovation in der Arbeitswelt
In Unternehmen fördern Kunstprojekte Problemlösungsprozesse, Teamgeist und Perspektivenwechsel. Die Fähigkeit zum visuellen Gestalten ist ein wichtiger Baustein für Innovationsfähigkeit im Zeitalter von Automatisierung.¹¹

Neue Berufsfelder durch Kunstpädagogik

Wenn Kunst als Bildungskompetenz verstanden wird, eröffnen sich auch neue Berufsfelder – jenseits des klassischen Kunstmarkts:

  • Kreativpädagog*innen: Sie stärken emotionale und kreative Fähigkeiten in Schulen oder Jugendzentren.
  • Kunst-Coaches: Sie unterstützen Teams in Unternehmen dabei, neue Denkansätze zu entwickeln.
  • Kunst-Gesundheitsberater*innen: Sie arbeiten mit Kliniken oder Therapiepraxen zur Förderung von Selbstwirksamkeit und Resilienz.
  • Community-Künstler*innen: Sie initiieren künstlerische Projekte mit gesellschaftlichem Mehrwert

Diese Berufe machen Kunst gesellschaftlich relevant und wirtschaftlich tragfähig – auch ohne Galerien oder Auktionen.

Kunst muss den Menschen dienen

Kunst darf heute kein Luxusgut mehr sein. Sie sollte ein Werkzeug sein – für Bildung, Gesundheit, soziale Stabilität und eine gerechte Gesellschaft.

 Quellen:

Hans Belting: Bild-Anthropologie, Wilhelm Fink Verlag, 2001.
Martin Kemp: Leonardo. Rowohlt, 2007.
Philipp Blom: Der taumelnde Kontinent – Europa 1900–1914, Hanser, 2009.
Art Basel & UBS: The Art Market 2024, www.artbasel.com
McKinsey: The Future of Creativity in the Age of AI, 2023.
Deutscher Kulturrat: Zahlenspiegel Bildende Kunst, 2022, www.kulturrat.de
UNESCO: Arts Education for Sustainable Development, 2021.
OECD: The Future of Education and Skills 2030, www.oecd.org
WHO-Bericht: What is the evidence on the role of the arts in improving health and well-being?, 2019.
Kulturpolitische Gesellschaft: Partizipative Kunst als soziale Praxis, 2020.
Harvard Business Review: Art Thinking in Business, 2022.

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